Atme ich richtig?
„Ich habe manchmal das Gefühl, nicht tief genug zu atmen – atme ich richtig?“
Die Klientin und alle, die sich diese Frage stellen, können wir beruhigen. Sie atmen richtig und brauchen nicht zu befürchten, dass Sie die „Kunst des Atmens vergessen“* hätten.
Jeder gesunde und einigermaßen entspannte Mensch ist in der Lage, mit einem tiefen Atemzug einen guten Teil seiner Bewegungskapazität von Brustkorb und Zwerchfell abzurufen. Ohne darüber nachzudenken, atmen wir und können der autonomen Atemregulation vertrauen. Alle diejenigen, die ihr Atemvolumen bewahren oder erweitern möchten, erreichen dies am wirkungsvollsten durch abwechslungsreiche körperliche Aktivität (z. B. regelmäßiges moderates Ausdauertraining) und die Verbesserung der Beweglichkeit von Wirbelsäule und Brustkorb. Im Yoga bieten sich dafür einfache, dynamisch geübte und mit dem Atem koordinierte Körperübungen wie Vorbeugen, Seitneigen, Drehungen und auch Rückbeugen an. Ein freier und tiefer Atem wird unterstützt durch eine gute Beweglichkeit von Brustkorb und Wirbelsäule sowie deren enge Koordination mit der Bewegung des Zwerchfells. Die Zwerchfellbewegung lässt sich indirekt durch das Heben und Senken der Bauchdecke beobachten.
Bewegungsarmut, Stress, Schmerzen und einige Erkrankungen gehören zu den Faktoren, die eine freie Atembewegung behindern.
Kurz zusammengefasst: Wir können uns auf die Großartigkeit und Zuverlässigkeit der Selbstorganisation unserer Lebensdynamik verlassen – bei jedem Atemzug.
Ist Ihnen schon einmal die Bezeichnung „Yogische Vollatmung“ oder „Vollständige Yogaatmung“ begegnet, als es um das Thema Atem im Yoga und prāṇāyāma ging?
Als wesentliches Kriterium der „vollen Yoga-Atmung“ wird eine Vertiefung der Einatmung beschrieben – und zwar vom Bauch beginnend nach oben geführt, aktiv, langsam und bewusst. Genau betrachtet, liegt hier ein Missverständnis vor, denn diese Art der Atmung ist weder besonders voll noch yogisch. Warum?
Greift man nicht in die autonom organisierte Atembewegung ein, dann verläuft die Einatmung der eben beschriebenen Anweisung diametral entgegen. Das bedeutet: Mit Beginn der Einatmung sinkt das Zwerchfell nach unten und gleichzeitig weitet sich der Brustkorb von oben nach unten seitlich. Dabei richtet sich die obere Wirbelsäule leicht auf. Keine Atembewegung kann vollständiger und effektiver sein als jener Ablauf, den die autonome Atemregulation anbietet. Was wir natürlich tun können, ist diese Atembewegung zu unterstützen, indem wir sie aktiv von oben nach unten führen. Anders als bei der sogenannten Yogischen Vollatmung gehen wir als Übende dann aber mit dem Atem und nicht gegen das Bewegungsangebot des Körpers.
In der aktuellen Yoga-Fachzeitschrift Viveka (Heft Nr. 62) wird die historische Entwicklung der „Yogischen Vollatmung“ dargestellt. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass wir es bei der „Yogischen Vollatmung“ mit einem Beispiel für einen Kulturtransfer zwischen Indien und dem Westen zu tun haben, der Ende des 19. Jahrhundert einsetzte und den Modernen Yoga wesentlich mitprägte. Übungen, Techniken und Erklärungen wurden weitergegeben und übernommen, ohne zu fragen, woher sie eigentlich kommen und ohne zu prüfen, ob sie dem aktuellen Wissenstand entsprechen.
Die Selbstregulation des Atems ist ausgesprochen sensibel, höchst flexibel und evolutionär so angepasst, dass wir mit den Bedingungen, die das Leben an uns stellt, gut zurechtkommen.
Wir müssen das Atmen nicht neu erlernen. Wir können mit dem Atem gehen und vom Atem lernen, wie wir wohl strukturiert wirkungsvolle Impulse geben können. Atemtechniken schlagen wir in der Yogatherapie vor, um positiv verändernd in das Atemgeschehen einzugreifen.
Gehen wir mit dem Atem, eröffnen wir Möglichkeiten für einen längeren, feineren, flüssigeren, gleichmäßigeren und auch einen tieferen Atem.
*„Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens“ lautet der Untertitel des Buches breath-Atem von James Nestor